Ostsee ’24: Im Altbekannten Neues entdecken
Eigentlich stand es ganz schön auf der Kippe, ob wir dieses Jahr überhaupt zur Ostsee fahren. Jenka hatte sich kurz vor der Abfahrt eine Hüftverletzung zugezogen, konnte überhaupt nicht laufen. Da hieß es erstmal, abwarten. Aber nach zwei Wochen ging es ihr einigermaßen besser, da haben wir schnell den Mast gelegt, und sind Ende der zweiten Augustwoche doch noch los Richtung Ostsee.
Routenmäßig hatten wir alle bisherigen Überlegungen losgelassen. Unsere einzige Vorgabe auf dieser Reise: Alles möglichst entspannt angehen. Bloß kein Stress, und gucken, wie weit wir kommen.

Die zweieinhalbtägige Kanalfahrt nach Stettin in der knallen Sonne war dann doch nicht ganz so unstressig. Streckenweise kamen wir uns vor wie auf dem Grill. Aber wir waren auf dem Boot, und in Bewegung, das war schonmal was. Und die Talfahrt im alten Schiffshebewerk war wie jedes Mal ein reines Vergnügen.

In Schwedt kam aber überraschenderweise ein fremder an Bord. Obwohl ich ihn nicht richtig einordnen konnte, kam er mir irgendwie bekannt vor. Und Jenka schien ihn gut zu finden, also durfte er bleiben.

Nach dem Maststellen im Akademischen Segelverein AZS in Stettin sind wir dann Richtung Haff gestartet, und sind am ersten Tag unter Segel bis nach Ziegenort / Trzebiez gekommen. Da hatten wir letztes Jahr im Vorbeifahren gemerkt, dass sich dort einiges getan hatte, und tatsächlich waren wir überrascht zu sehen, wie schön die Marina im nördlichen Bereich des Hafens geworden ist. Der Yachthafen ist von massiven Schwimmstegen fast komplett umkreist, und es macht alles einen ordentlichen und gepflegten Eindruck. Der Hafenmeister meinte, die Renovierarbeiten wurden vor 7 Jahren angefangen, und der letzte Schwimmsteg war vor 2 Jahren fertiggestellt worden. Und als Sahnehäubchen gab es an dem Abend einen blutroten Mondaufgang über dem Hafen.

Nach Ziegenort sind wir Richtung Ueckermünde aufgebrochen. Das Stettiner Haff zwischen Ziegenort und Altwarp ist aber voll mit Stellnetzen, deren Dichte zunimmt, je näher man ans Ufer kommt. Aus diesem Grund hatten wir viele Jahre lang den kompletten Küstenbereich weiträumig umsegelt, bis wir letztes Jahr bei Windstille den Weg durch die Netze von Altwarp nach Ziegenort gefunden hatten. Dieses Mal war auch wenig Wind und gute Sicht, da haben wir es uns also nochmal vorgenommen. Alles halb so schlimm, aber die Sichtverhältnisse sind m.E. das Entscheidende. Die Stellnetze sind nicht immer dort, wo sie in der Karte stehen, auch nicht in den aktuellsten elektronischen Versionen. Man muss also ständig Ausschau halten, und darauf achten, wo die Netze tatsächlich anfangen und aufhören. Aber letztendlich lohnt es sich, denn man spart einiges an Strecke, und die Fahrt ist spannender.

Wir verbringen die Nacht in der Lagunenstadt Ueckermünde, und fahren am nächsten Tag Richtung Peenestrom weiter. Um die Zecheriner Brücke mittags zu kriegen, sind wir kurz nach 9 los. Angesagt war eine 5 aus E. Gekommen ist aber eine 6-7, in Spitzen 8. Die Fahrt über das Haff wird dadurch ziemlich anstrengend. Zwischendurch werden wir aber von Seeadlern und großen Kormoranschwärmen begleitet, was für willkommene Abwechslung sorgt.


Im Peenestrom war es dann etwas ruhiger, aber der Wind blieb ruppig, mit unerwarteten Böen. Einmal Höhe Lieper Winkel angekommen, entschieden wir, nach Zinnowitz zu fahren. Kurs über Grund, ca 45°, bei einer achterlichen 7 aus SW. Bei strahlendem Sonnenschein fuhren wir einem bequemen Vorwindkurs mit nur einer gerefften Genua, und erreichten in Spitzen 7,2 Knoten – eine gute Leistung für unsere kleine Albin Vega. Das Tolle am Achterwasser ist, dass selbst bei viel Wind wenig Welle entstehen kann, und am Ende eines anstrengenden Tages hatten wir wirklich wunderbare Segelbedingungen.

Bei starkem achterlichen Wind kann man gut segeln. Nur das Aufhören kann gelegentlich schwierig werden! Der Hafen von Zinnowitz ist relativ eng, und wir hatten dort schon öfters Probleme mit seitlichen Winden beim Anlegen.
Zum Glück herrschte in der kleinen Bucht beim Zinnowitzer Hafen „nur“ eine 5. Wir sind mit Schmackes in den Hafen rein und nahmen den erstbesten freien Platz. Scharf abgebremst, nachjustiert, mit freundlicher Unterstützung unserer Liegeplatznachbarin. Auf Querstehen im Hafen hatten wir heute wirklich gar keine Lust!
Nach Zinnowitz ging es wieder peenestromaufwärts an Wolgast vorbei nach Krösslin, wo wir überlegt haben, wie es mit unserem Törn weitergehen sollte. Vielleicht wie gewohnt nach Hiddensee? Die Windprognose für den Weg dorthin war günstig: eine 3 aus Ost, auf Süd drehend für die Strecke Stralsund-Vitte. Aber die Vorhersage für den Rückweg war nicht so schön: Eine Woche gegenan, bei einer 4-5 aus Ost. Die bisherige Route ab Ziegenort war eher anstrengend gewesen. Dabei wollten wir es doch entspannter angehen!
Wir entschieden uns also, statt Hiddensee lieber Sellin auf Rügen anzupeilen.
Falls ihr ihn nicht kennt, der Wasserwanderrastplatz Sellin liegt super geschützt im Selliner See am Ende der Having im nordöstlichen Greifswalder Bodden. Wir segelten vom Peenestrom quer über den Bodden, bogen Richtung Nordosten in die Having ein, fädelten uns durch die Enge am Baaber Hafen, und erreichten dann den idyllischen Selliner See. Der Hafen schien kein Geheimtipp mehr zu sein, denn es waren einige große Motorboote vor Ort. Aber wir ergatterten eine Box an der Seeseite der Anlage, und genossen die Ruhe, die nur vom gespenstischen Klang des vorbeifahrenden Rasender Roland gelegentlich unterbrochen wurde.

In Sellin blieben wir insgesamt 3 Nächte. Jenka ging es mittlerweile soweit besser, dass wir sogar Ausflüge nach Binz und zum Jagdschloss Granitz gewagt haben.
Der Aufenthalt in Sellin markierte der Scheitelpunkt unseres 3-wöchigen Törns, und wir machten uns langsam wieder auf den Heimweg. Zunächst übernachteten wir im gemütlichen kleinen Hafen der Sportgemeinschaft Seesegeln Freest, was wirklich traumhaft schön war. Der einzige Nachteil dabei: der Weg ins Dorf ist relativ weit. Wir hatten überlegt, am Holzsteg vorne im Fischereihafen anzulegen, was den Vorteil hat, direkt am Strand zu sein. Aber der Wind blies direkt in den Hafen ein, was eine unruhige Nacht versprach, und der vorhandene Platz war gnadenlos ausgereizt. Also wählten wir den Hafen von der SSF, und haben es nicht bereut!

Nach Freest ging es weiter Richtung Krummin. Hinter Wolgast schläft der Wind kurz ein, und über uns hinweg ziehen immer wieder Kraniche, meist in v-förmiger Formation. Man hört sie, eher man sie sieht. Ein kurzer krächzender Ruf, der den Herbst ankündigt. Herrlich!

Wir übernachteten im Naturhafen und verbrachten den nächsten Tag vor Anker im Krumminer Wiek bei 32°. Wir folgten dem Beispiel eines ortskündigen Albin-Vega-Paares und fuhren bis auf 100 meter Abstand vom Ostufer des Wieks. Mit ca. einem halben Meter Wasser unterm Kiel warfen wir den Anker und genossen die Ruhe und die fast karibischen Temperaturen.

Am späteren Nachmittag brachen wir dann auf und segelten um die Ecke – also um die Südspitze der Halbinsel Gnitz herum. Von anfänglich 8 Knoten schlief der Wind ein bis auf 0,5 Knoten als wir die Spitze umrundeten. Trotzdem wurde dies einer der spannendsten Segelabende, die wir in letzter Zeit erlebt haben. Denn die Enge zwischen Gnitz und dem Lieper Winkel beherbergt 4 Kardinaltonnen, diverse Untiefen und zahlreiche Stellnetze. Navigatorisch eine ziemliche Herausforderung also!

Bisher hatten wir es immer vermieden, den relativ engen Weg durch die Tonnen auf der Gnitzer Seite zu nehmen, waren also immer am Lieper Winkel vorbei Richtung Zinnowitz. Diesmal, bei so wenig Wind, dachten wir, dass es interessant sein könnte, die „riskantere“ Route zu nehmen. Durch den schmalen Weg zwischen der Insel Görmitz und den kleinen Hafen von Netzelkow hatten wir uns auch noch nicht getraut, vor allem wegen den geringen Wassertiefen und zahlreichen Steinen. Aber durch den entspannten Nachmittag und die fast eingeschlafenen Windverhältnissen waren wir dermaßen entschleunigt, dass wir es jetzt wissen wollten. Wir hielten permanent Ausschau nach Stellnetzen, und haben sogar unterwegs gekocht und gegessen, so glatt war das Wasser.

Über der Insel Görmitz war die Luft zeitweise voll mit riesigen Schwärmen von Staren, und die Westseite der Insel war tatsächlich ein ganz neuer Anblick für uns. Der kleine Hafen Netzelkow sah spannend aus, wenn auch ziemlich verlassen. Als der Wind dann komplett eingeschlafen ist, schmissen wir den Motor an und brausten mit sagenhaften (zumindest im Vergleich zu vorher!) 4,5 Knoten davon Richtung Zinnowitz.

Am nächsten Tag nahmen wir uns vor, die Westhälfte des oberen Achterwassers zu ersegeln, auch eine Neuigkeit für uns.
Bei einer achterlichen 3-4 aus NW ließen wir uns rüberwehen Richtung Stagnieß am Ostufer des Achterwassers. Stagnieß zeichnet sich dadurch aus, dass der kleine Hafen eine lange, enge, befestigte Einfahrtrinne hat. Laut Revierführer ist der Hafen bei allen Wetterlagen gut geschützt. Die Einfahrt sollte aber bei schlechten Sichtverhältnissen von Ortsunkundigen auf keinen Fall versucht werden.

Wir versuchten es diesmal auch nicht. Nicht, dass die Sichtverhältnissen schlecht waren. Wir waren nur nicht ganz bereit, mit dem Segeln aufzuhören. Also fahren wir wieder Richtung Westen, machen einen Bogen um die nördlichste Spitze des Lieper Winkels – die Nord-Kardinaltonne markiert eine Untiefe die zutreffenderweise „Trockenort“ heißt, und entschließen uns kurzerhand, im bisher uns unbekannten Hafen Netzelkow zu übernachten.
Bei der Ankunft bin ich mehr als skeptisch. Der Hafen wirkt verlassen, ja fast vernachlässigt. Als wir ankommen, sind zwei Leute am Werkeln, die dann aber sofort das Weite suchen. Kein Hafenmeister weit und breit. Nebenan befindet sich ein Winterlager mit lauter heruntergekommenen Segelbooten. Das Ganze wirkt auf mich eher wie der Anfang eines Horrorfilms. Oder sagen wir wenigstens ein Krimi, der nicht gut ausgeht. Jenka meint, ich solle nicht so übertreiben, der Ort wirke doch ganz friedlich, und der Ausblick über die ganze Weite des Achterwassers sei doch herrlich. Ich bin aber alles anders als überzeugt…
Irgendwann taucht dann der Hafenmeister auf – ein sympathischer Mann um die 40, der mir die Geschichte des Hafens erzählt (neu übernommen, große Pläne, aber wenig Geld), mir die Liegegebühr abknöpft (ganze 10 Euro) und uns zusichert, wenigstens er wird die ganze Nacht vor Ort sein. Bald taucht sein Kumpel auf und schenkt uns selbstangebaute Äpfel, Birnen und Tomaten, „Alles Bioqualität“. Es ist tatsächlich das erste Mal, dass ich beim Entrichten der Hafengebühr aus dem Nichts beschenkt worden bin. Meine Laune dreht sich um 180°! Aus dem sich anbahnenden Horrorfilm wird ein ganz idyllischer, ruhiger Hafen, mit wahnsinnig freundlichen Einheimischen.
Die Nacht ist ruhig – keine Zombies weit und breit – der Himmel sternenklar, die Wasseroberfläche glatt bis zum Horizont. Am nächsten Tag macht Jenka ihre morgendlichen Yogaroutine auf dem Steg, und ich lasse unsere kleine Drohne zur Möwenkolonie am Ende des Steges fliegen. Die großen schwarz-weißen Vögel bleiben aber von so einem kleinen surrenden Etwas gänzlich unbeeindruckt.

Gegen 9 brechen wir auf Richtung Zecheriner Brücke. Wir wollen heute noch nach Mönkebude. Unsere Reise geht langsam zu Ende.
Mönkebude ist wie immer super schön. Es gibt nicht so viele Häfen wo man quasi direkt am Strand festmachen kann. Wir freuen uns jedes Mal, wenn wir da sind. Nur diesmal gibt es ein Line-Dance-Festival auf dem Zeltplatz, und wir werden bis spät in die Nacht mit Country-Hits der letzten 30 Jahre bombardiert. Wir sprechen auch mit der alten Besitzerin des Segelbedarfladens. Ihr Mann ist krank, sie sind beide über achtzig. Eine Weile schon sprechen sie übers Aufgeben. Dieses Jahr ist es soweit. Ich frage sie, ob sie einen Bootshaken für mich hat. Wir dürfen in den Laden rein und die Restbestände durchstöbern. Es ist ein trauriger Anblick. Und irgendwie ein Verlust für den kleinen Hafen. Die Bootstankstelle wird vom Sohn scheinbar weiter betrieben. Aber für den Laden gibt es erstmal keinen Nachfolger.
Ab hier geht’s im vertrauten Stil weiter heimwärts: Die Fahrt nach Ziegenort fängt schön an, bei Sonnenschein und einer östlichen 3, wird aber zunehmend anstrengend als der Wind gegen Abend auf Nord dreht und zunimmt. Es baut sich auch ein ordentlicher Wellengang auf, und wir surfen nach Ziegenort rein. Der Nordwind drückt aber die Wellen in den Hafen hinein, und bringt alle dort festgemachten Boote zum tanzen. Zum Glück beruhigt sich die Lage gegen Abend. Wir sind auch, soweit wir das feststellen können, das einzige deutsche Boot in der Marina. Die Saison geht langsam aber sicher zu Ende.

An unserem letzten Segeltag brechen wir spät auf. Wir haben es nicht eilig, den Mast zu legen. Der Wind hat sich auf Süd gedreht, und wir kreuzen die Odermündung hoch bei strahlendem Sonnenschein – ein wirklich fantastischer Abschluss für unseren Segelurlaub. Auf dem Dąbie – dem Dammschen See – ist die Oberfläche spiegelglatt. Null Wind und 32°. Uns ist schon ein bischen bange vor der Kanalfahrt!

Maststellen und Kanalfahrt verlaufen wie gewohnt. Nur am Schiffshebewerk gibt’s für uns ein kleines Schmankerl: Wir dürfen endlich mit dem neuen Schiffshebewerk fahren!
Als wir ankommen, sehen wir die neue Signaltafel mit den zwei weißen Lichtern. Das rechte Licht blinkt, das linke bleibt stehen. Ich rufe den Schichtleiter an (): “Guten Tag, hier Sportboot Ölle auf Bergfahrt. Verstehe ich ihr Signal richtig, dass wir ins neue Schiffshebewerk dürfen?” “Das haben Sie richtig gedeutet, Sie können am neuen Warteplatz anlegen.” Ich bin begeistert: „Oh Mann, das ist ja aufregend!“. Der Schichtleiter lacht: „Na dann schöne Fahrt!“
Die Fahrt ist tatsächlich schön. Und auch aufregend, vor allem weil ein riesiges Hotelschiff fast den ganzen Platz für sich in Anspruch nimmt. Aber wir müssen beide feststellen: das alte Schiffshebewerk ist einfach schöner.

Nach zweieinhalb Tagen Kanalfahrt, und insgesamt fast 400 Seemeilen Gesamtstrecke, kommen wir wieder zu Hause in der TSV an, erschöpft aber glücklich!
Mike & Jenka